Aktueller Kommentar September 2024
EU-Entwicklungspolitik in der Sicherheitsfalle

Die neue EU Kommission zwingt die EU Entwicklungspolitik unter das Joch ihrer Sicherheitsstrategie. Sie überschätzt dabei ihre globale Verhandlungsmacht und riskiert damit den langfristigen Interessen Europas zu schaden.
Von Werner Raza (ÖFSE)
Die EU nach den Wahlen zum EU Parlament: deutliche Rechtsverschiebung
Die Anfang Juni geschlagenen Wahlen zum Europäischen Parlament (EP) brachten eine deutliche Rechtsverschiebung der politischen Landschaft. Vor allem die grüne und die liberale Parteifamilie mussten Verluste hinnehmen, während die radikal-rechten Parteien und die Europäische Volkspartei (EVP) zulegten. Das bisherige Bündnis aus EVP, Sozialdemokraten und Liberalen hat allerdings weiterhin die Mehrheit im EU-Parlament, was eine Beteiligung der Rechtsfraktion nicht notwendig macht.
Dennoch hat das Wahlergebnis zusammen mit den jüngsten Machtzuwächsen von Rechtsaußenparteien in mehreren Mitgliedsstaaten (z.B. Regierungsübernahmen in Italien, den Niederlanden, oder Finnland) zu deutlichen Akzentverschiebungen in der inhaltlich-politischen Ausrichtung der europäischen Politik geführt. Auch die personelle Zusammensetzung der neuen EU Kommission wurde davon beeinflusst.
Sicherheit und Wettbewerbsfähigkeit statt Europäischer Grüner Deal
Der Druck der starken pan-europäischen Klimabewegung 2018/19 und der Erfolg der Grünen bei der Europawahl im Mai 2019, die im Rückblick als Klimawahl gilt, sowie bei nationalen Wahlen u.a. in Deutschland und Österreich, prägten die erste EU-Kommission unter Ursula von der Leyen (2019–2024). Ihr zentrales Ziel war es, die Europäische Union bis 2050 klimaneutral zu machen. Der dafür vorgestellte European Green Deal umfasste eine Vielzahl von Maßnahmen und Gesetzesinitiativen (z.B. Fit-for-55 Package), die darauf ausgerichtet waren, zentrale Bereiche wie Landwirtschaft, Energie, Gebäude, Verkehr und Industrie zu dekarbonisieren und die europäische Wirtschaft in Richtung einer Kreislaufwirtschaft zu transformieren.
Retrospektiv muss man sagen, dass die Herausforderungen in der Umsetzung eines solch ambitionierten Jahrhundertprojekts unterschätzt wurden. Die EU-Kommission richtete zwar einen Transformationsfonds ein, der wie von der Leyen betonte dafür Sorge tragen sollte, „niemanden zurückzulassen“. Dieser war allerdings viel zu bescheiden dotiert, um die vielfältigen Lasten der Umstellung in sozialer als auch regionaler Hinsicht zu kompensieren. In Kombination mit der Corona-Pandemie und dem Inflationsschub infolge des Kriegs in der Ukraine verschoben sich die politischen Prioritäten der Bürger*innen.
Auch wenn sich bei Umfragen weiterhin ein hoher Prozentsatz der Befragten zur Wichtigkeit von Klimaschutz bekennt, ist die Bereitschaft selbst seinen Lebensstil umzustellen und allfällige Anpassungslasten solidarisch mitzutragen, zweifellos gesunken. Die Rechtsaußen-Parteien quer durch Europa haben durch eine Mischung aus Klimawandelleugnung und Polemik gegen fast jede Green Deal Maßnahme sowie radikale Klimaschützer*innen erfolgreich Stimmung gemacht. Vom Green Deal negativ betroffene Unternehmenssektoren mit stark an der Verfügbarkeit fossiler Brennstoffe hängenden Geschäftsmodellen haben mit massivem Lobbying die Umsetzung der Maßnahmen zumindest verlangsamt. Zum Beispiel, indem sie unter anderem damit drohen Geschäftszweige ins Ausland zu verlagern oder überhaupt zuzusperren.
Auf die Kombination aus sozio-ökonomischen Verwerfungen, Krisenfolgen und neuen geopolitischen Herausforderungen und Konfliktlagen – Stichwort Krieg in der Ukraine, Gaza-Krieg und Rivalität mit China – hat die europäische Politik mit einer Strategie der Versicherheitlichung (securitization) reagiert. Die Leitthemen der neuen Kommission lauten demgemäß Sicherheit und Wettbewerbsfähigkeit.
In einer Welt, die zunehmend einem „Dschungel“ (©Josep Borrell) gleicht, will die EU-Kommission das europäische Wirtschafts- und Sozialmodell samt seinen liberalen Werten verteidigen. Seine wirtschaftlichen Interessen nach Zugang zu kritischen Rohstoffen, Energie, Hochtechnologie oder Absatzmärkten genauso wie seine politischen Interessen bei der Bekämpfung von Flucht und Migration muss Europa dieser Logik zufolge konsequent durchsetzen. Alle möglichen Politikbereiche, und dazu gehören auch die internationale Entwicklungszusammenarbeit oder die gemeinsame Handelspolitik, sollen in den Dienst der Erreichung dieses Ziels gestellt werden.
Untergeordnete Funktion für EU Entwicklungszusammenarbeit
Ursula von der Leyen macht in ihrem Mission Letter an den neuen Kommissar für Internationale Partnerschaften Jozef Síkela unmissverständlich klar, was sie von ihm erwartet: entwicklungspolitische Instrumente wie die Global Gateway Initiative auszubauen und die dort gebündelten Finanzmittel für den Zugang Europas zu kritischen Rohstoffen, saubere Energie und grüne Technologie einzusetzen. Umfassende Partnerschaften sollen mit Ländern des Globalen Südens aufgebaut werden, um die Ursachen für irreguläre Migration zu beseitigen und Schmugglernetzwerke zu bekämpfen.
Traditionelle Bereiche der Entwicklungszusammenarbeit wie Armutsbekämpfung, Gesundheit und Bildung spielen dagegen nur noch im Kontext der Least Development Countries eine Rolle. Die Förderung nachhaltiger Entwicklung und von Umwelt- und Klimaschutz kommt abgesehen von einer allgemeinen Referenz zur Förderung der UN Sustainable Development Goals in dem Dokument gar nicht vor. Ebenso wenig gibt es Bezüge zur wichtigen Rolle der EU bei der Förderung und Bereitstellung globaler öffentlicher Güter.
Es bleibt abzuwarten, wie der neue Kommissar Jozef Síkela, sollte er vom Europäischen Parlament nach dem Hearing bestätigt werden, seine Rolle anlegen wird. Im Gegensatz zur bisherigen Kommissarin, der finnischen Sozialdemokratin Jutta Urpilainen, ist der Tscheche Síkela dem liberal-konservativen Lager zuzurechnen.
Síkela ist in österreichischen Finanzkreisen kein Unbekannter. Er arbeitete während vieler Jahre in teils hohen Managementpositionen für mittel- und osteuropäische Töchter der Bank Austria Creditanstalt und der ERSTE Bank. Erst seit 2019 ist er in der Politik tätig. Die letzten Jahre fungierte er als tschechischer Minister für Industrie und Handel. Einschlägige entwicklungspolitische Erfahrung hat er nicht, als Banker kann ihm seine Finanzexpertise aber zugutekommen.
Als relativer Neuling auf dem Brüsseler Parkett wird er mit seinem Dossier jedenfalls nicht zu den Schwergewichten in der Kommission gehören. Wie schon in den vergangenen fünf Jahren ist der EU Entwicklungskommissar der EU Außenbeauftragten, nach dem Sozialdemokraten Josep Borrell nunmehr die liberale Kaja Kallas, untergeordnet. Deren Mandat ist ganz klar auf die Stärkung der militärischen und diplomatischen Fähigkeiten zur Durchsetzung europäischer Interessen ausgerichtet.
Soft Power adé, Hard Power olé?
Entwicklungszusammenarbeit ist von jeher ein Instrument der Soft Power und die Europäische Union war in den letzten vier Jahrzehnten der Soft Power-Akteur par excellence. Sie setzte auf einen relativ hohen Finanzmitteleinsatz und internationale Initiativen, etwa in der Klimapolitik. Gleichzeitig zeigte sie ein vergleichsweise offenes Ohr für die Anliegen des Globalen Südens, um ihre internationale Reputation zu pflegen und ihre Interessen zu verfolgen. Die neue EU Kommission scheint damit Schluss machen zu wollen. Stattdessen will sie die Hard Power der EU stärken. Es bleiben aber beträchtliche Zweifel, ob dieses Vorhaben gelingen kann.
Die entscheidenden außen- und verteidigungspolitischen Kompetenzen sind auf nationaler Ebene angesiedelt, für einen Transfer auf die europäische Ebene fehlt gerade aufgrund des Machtzugewinns der Rechtsaußen-Parteien der politische Wille. Ebenso wie für die dafür notwendige Aufstockung des EU Budgets. Stattdessen Soft Power Instrumente wie die Entwicklungszusammenarbeit als Surrogat für Hard Power zu verwenden, wird auf Unverständnis stoßen und droht die ohnehin angespannten Beziehungen zu vielen Ländern des Globalen Südens, insbesondere auf dem afrikanischen Kontinent weiter zu verschlechtern.
Die europäische Politikelite überschätzt ihre Verhandlungsmacht. Gerade aufgrund der vielfältigen ökonomischen Abhängigkeiten Europas und der von der europäischen Politik zur obersten Priorität erklärten Migrationsabwehr braucht Europa den Globalen Süden mindestens so sehr, als dieser uns. Ohne die Bereitschaft zu partnerschaftlicher Kooperation auf Augenhöhe und dem Willen zur Wiedergutmachung kolonialer Verbrechen und von Klimaschäden, wird es Europa in Zukunft schwer haben, seine Füße im Globalen Süden auf den Boden zu bringen. Es wird offenbar noch dauern, bis diese Erkenntnis politikleitend sein wird.
Dr. Werner Raza ist Leiter der Österreichischen Forschungsstiftung für Internationale Entwicklung (ÖFSE)
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