Aktueller Kommentar Mai 2024

Zwischen geopolitischem „Schlachtfeld“ und bewusster Leerstelle: Entwicklungspolitik im EU-Wahlkampf

Foto (c) Philine Zech Photography

Am 9. Juni finden die Wahlen zum Europäischen Parlament statt. Was bedeutet das für die EU-Entwicklungspolitik? Und wie positionieren sich Österreichs Parteien dazu? Ein Überblick.

Von Lukas Schlögl (ÖFSE), Mai 2024

Als eines der Hauptorgane der EU verabschiedet das Europäische Parlament gemeinsam mit dem Rat der EU Gesetze. Es spielt eine zentrale Rolle bei der Auswahl der Kommission und stellt sicher, dass diese im Einklang mit festgelegten Zielen der EU handelt. Damit gestaltet das Parlament auch maßgeblich die Entwicklungspolitik. Es wirkt am EU-Haushalt mit und bewilligt dabei auch die Finanzmittel für Entwicklungsprojekte. Über Berichte, Anhörungen und diplomatischen Austausch nimmt es Einfluss auf die Agenda internationaler Organisationen und Partnerländer im Globalen Süden.

Kurzum: Das EU-Parlament hat entwicklungspolitisches Gewicht. Das gilt umso mehr aus Sicht eines Landes wie Österreich, das in den letzten Jahren bis zu einem Drittel des Volumens seiner öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit (EZA) über Beiträge an das EU-Budget leistete.

Wechsel, Wandel, Wende

Wohin bewegt sich die EU-Entwicklungspolitik derzeit? Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen leitete während ihrer Amtszeit einen Paradigmenwechsel in der Außen- und Entwicklungspolitik ein, der sich vielleicht am besten mit dem Label „grüne Geopolitik“ zusammenfassen lässt. Lag der Fokus früher noch stärker auf Entwicklungszielen wie Armutsbekämpfung, verfolgt die Kommission nun einen zunehmend interessengeleiteten und offensiven Zugang.

Die EZA der EU wird dabei immer enger mit Politikbereichen wie Klima, Handel, Digitalisierung und Sicherheit verknüpft. So erneuerte die EU etwa 2023 mit einer Gruppe afrikanischer, karibischer und pazifischer Staaten (den sogenannten AKP-Ländern) ein Abkommen, das die Zusammenarbeit in Bereichen von EZA über Handel bis zur Kontrolle irregulärer Migration vertieft. Sinnbildlich für die entwicklungspolitische Neuorientierung steht die Umbenennung des Generaldirektorats für Entwicklung in „Internationale Partnerschaften“. Ein jüngst durchgesickertes internes Dokument dieser Abteilung mit teils martialischem Tonfall sieht die EU auf einem „Schlachtfeld des geopolitischen Wettbewerbs“, auf dem es sich zu behaupten gelte.

Eine Schlüsselrolle in den globalen Ambitionen der Kommission kommt der „grünen Wende“ zu, insbesondere durch die Initiative des „European Green Deal“, der auch in die EZA integriert wurde. Mithilfe von Programmen wie "Green Deal Diplomacy" und der Unterstützung erneuerbarer Energien im Globalen Süden versucht die EU, den Übergang zu nachhaltigen Energiesystemen zu fördern. Mit dem Infrastrukturprogramm „Global Gateway“ will die EU nicht nur Chinas geopolitischen Ambitionen in Afrika die Stirn bieten, sondern auch für größere strategische Autonomie in der Industrieproduktion und beim Zugang zu Rohstoffen sorgen. Zugleich versucht die EU, etwa mit der Lieferketten-Gesetzgebung, international Normen und Standards zu setzen.

Global Gateway stärken oder Green Deal stoppen?

Wie positionieren sich Österreichs Parteien zu diesen Fragen? Ein Blick auf die aktuellen EU-Wahlprogramme ergibt ein gemischtes Bild.

Die ÖVP erwähnt EZA in ihrem EU-Wahlprogramm nur einmal explizit: Die „Auszahlung der EU-Gelder für Entwicklungszusammenarbeit“ solle „nur bei ausreichender Kooperation zur Reduzierung der Migration erfolgen“. Ähnliche Forderungen fanden sich bereits im zuletzt lancierten „Österreich-Plan“ des Bundeskanzlers. Im EU-Wahlprogramm wird darüber hinaus eine „Stärkung der Global-Gateway-Initiative“ bekräftigt und Österreichs „neutrale Vermittlerrolleund Amtssitz für internationale Organisationen unterstrichen.

Die SPÖ spricht sich in ihrem Programm dafür aus, dass die EU „ihre globale Führungsrolle und ihr starkes Engagement für Entwicklungsprogramme und wirksame humanitäre Hilfe beibehält“. Die Union habe „auch außerhalb Europas eine Verantwortung“ und sei „die weltweit größte Geberin internationaler Hilfe“ worauf man „stolz sein“ dürfe. Im Spannungsverhältnis zu entwicklungspolitischen Zielen sieht die SPÖ Teile der Handelspolitik, im Rahmen derer sie sich für „fairen Handel“ einsetzt und das neue EU-Lieferkettengesetz lobt, das „Ausbeutung, Missbrauch und Umweltzerstörung“ verhindere.

Die FPÖ thematisiert EZA in ihrem EU-Wahlprogramm nicht, wobei sich insgesamt wenige außenpolitische Forderungen darin finden. Konsequenzen für die Entwicklungspolitik ergeben sich dennoch: Erstens will die FPÖ den Green Deal „stoppen“, der auch eine entwicklungspolitische Dimension hat; sie spricht sich zweitens für eine „aktive Friedenspolitik“ aus, worunter militärische Neutralität und ein Ende internationaler Sanktionen verstanden wird; und sie möchte drittens das EU-Budget „halbieren“, was wohl eine starke Reduktion bzw. Renationalisierung europäischer EZA zur Folge hätte.

Die Grünen sehen das Erreichen der nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs) im „Zentrum“ der gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Friedenspolitik. Die EU müsse „faire Partnerschaften“ anstreben und dürfe angesichts globaler Krisen den „Rest der Welt gerade jetzt nicht im Stich lassen“. Die Mittel für EZA sollten nach Ansicht der Grünen „aufgestockt und gezielter eingesetzt“ werden, wobei Klimaschutz, „Selbstbestimmung vor Ort“, und ein „Transparenzmechanismus“ gefordert werden. Das Programm spricht sich ferner dafür aus, die „noch immer sehr nationalstaatlich strukturierte“ EZA „europäisch zu koordinieren“ und fordert einen „starken ‚Team Europe‘-Ansatz“. Ähnlich wie die SPÖ äußern sich die Grünen kritisch zu Handelsabkommen.

Die NEOS sprechen sich für eine „Vergemeinschaftung der finanziellen Mittel“ der EZA auf europäischer Ebene aus, um „Partikularinteressen“ entgegenzuwirken.  Dementsprechend möchten sie „alle Agenden und Mittel“ der EZA „in einer EU-Implementierungsagentur zusammengefasst“ sehen. Mit den Empfängerländern wollen sie „Rückführungs- und Ausbildungsabkommen“ abschließen. Entwicklungspolitische Relevanz haben darüber hinaus der Ruf nach einem Ende des Einstimmigkeitsprinzips bei Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, nach „wertebasiertem Freihandel“ sowie einer „Beitrittsperspektive“ für Ukraine und Westbalkan. Global Gateway möchten die NEOS ähnlich wie die ÖVP „stärken“.

Von Reformieren bis Reduzieren

Was fällt an den Programmen auf? Kleinere Parteien legen ein deutlich stärkeres Gewicht auf Entwicklungspolitik – angesichts geringerer Ressourcen und exekutiver Einflussmöglichkeit durchaus erstaunlich. Umgekehrt lässt die derzeit mandatsstärkste Partei, die mit Außenministerium sowie Stimmrecht in der stärksten EU-Fraktion das größte entwicklungspolitische Machtvolumen innehat, in ihrem Programm eine Leerstelle bei dem Thema. Die Sozialdemokraten applaudieren dem entwicklungspolitischen Status Quo und bringen relativ wenig Reformanspruch zum Ausdruck. Die FPÖ will an das Thema nicht einmal anstreifen – obwohl mit ihren Kernthemen der Migration und Sicherheit eigentlich entwicklungs- und außenpolitische Interessen verknüpft sein müssten. Grüne und NEOS machen sich für eine stärkere Zentralisierung der EZA auf europäischer Ebene stark.

Wie steht es um die Gunst der Wählerinnen und Wähler? Auf Ebene der Europäischen Parteifamilien zeichnet sich im Aggregat der jüngsten Umfragen derzeit weiterhin eine relative Mehrheit für die Europäische Volkspartei ab (24%). Gefolgt wird diese von den Europäischen Sozialdemokraten (20%), der rechtspopulistischen Fraktion „Identität und Demokratie“ (12%), der liberalen „Renew Europe“ (11%) und den EU-skeptischen „Europäischen Konservativen und Reformern“ (10%). Jeweils 6% könnten auf Grüne, fraktionslose und neue Gruppierungen und 4% auf die Europäische Linke entfallen. Eine OGM-Erhebung zu den EU-Wahlabsichten in Österreich sah die FPÖ Mitte Mai bei 26%, ÖVP und SPÖ bei je 22%, die NEOS bei 14% und die Grünen bei 13%.

Zu erwarten ist damit ein Zuwachs jener Kräfte, die der Entwicklungspolitik skeptisch gegenüberstehen. In welche Richtung es gehen könnte, davon kann man sich derzeit in den Niederlanden ein Bild machen: Neben einer äußerst restriktiven Migrationspolitik und der Lockerung von Umweltauflagen, kündigte eine von Geert Wilders eingefädelte Vierer-Koalition die Kürzung der EZA-Ausgaben der Niederlande um circa ein Drittel an. Auch der Europäische Rat setzte bei Nachverhandlungen des EU-Budgets im Frühjahr eine Umwidmung für EZA vorgesehener Gelder zugunsten anderer Prioritäten wie der Unterstützung der Ukraine und dem Asyl- und Migrationspakt durch. Ob die zunehmende geostrategische und migrationspolitische Instrumentalisierung der EZA auf europäischer Ebene einem gestärkten rechtspopulistischen Lager genügend Appeasement bieten wird, bleibt abzuwarten.

Dr. Lukas Schlögl ist Senior Researcher an der Österreichischen Forschungsstiftung für Internationale Entwicklung (ÖFSE).
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